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Istanbul - Das Tor zum Orient
12 Stunden in der Metropole am Bosporus

von Andreas Pflügler

Im August 1989 saß ich gemeinsam mit zwei Freunden im Istanbul-Express. Wir näherten uns der ersten Etappe unserer Nahostreise. Der Zug schien nun, in Reichweite seines Zieles, seine Fahrtgeschwindigkeit zu steigern. Die alten Holzhäuser der Vororte Istanbuls rasten an unserem Fenster vorüber. Immer näher kam der Sirkeçi-Istasiyon, der Hauptbahnhof der Bosporusmetropole. - Hinter uns lagen 44 Stunden Zugfahrt, eine Fahrt durch die malerischen Weiten der in den letzten Jahren durch den jugoslawischen Krieg vergewaltigten slawonischen Ebene, durch die Balkanschluchten Serbiens, durch die bunten Felder Bulgariens und zuletzt durch das sanfte Hügelgebirge Thrakiens.
   »Andreas, siehst du ihn auch schon?«, wurde ich gefragt.
   »Was soll ich sehen?«, fragte ich zurück.
   »Na, den Topkapi-Palast...«
Ich lehnte mich aus dem Fenster, ließ mir die stickige Stadtluft ins Gesicht blasen, kniff die Augen zusammen und sah nach vorne. Wirklich schälten sich bereits die Umrisse des Sultanahmet-Stadtteils aus dem Smog. Mittendrin, und wie über dem Dunst schwebend, erkannte ich die Minarette der Blauen Moschee, die unmittelbar gegenüber des alten Sultanspalastes liegt. Und während nun der Zug langsamer wurde, schweiften meine Gedanken ab: Ich dachte an das Jahr zuvor, 1988. Damals hatten wir uns von der anderen Seite, von Asien, Istanbul genähert; das war der Schluss unserer Reise gewesen. Von der Stadt waren wir sehr enttäuscht gewesen. Ich kann nicht genau sagen, woran das gelegen hatte. Vermutlich waren unsere Erwartungen von dieser berühmten Weltstadt zu hoch gewesen. Denn wir hatten einen stark verwestlichten Moloch vorgefunden, mit Tausenden Touristen, modernen Straßenzügen und einer hektischen Lebensart, die wir in den einsamen Gegenden Anatoliens, in vom Massentourismus noch verschonten Gebieten in angenehmster Weise entbehrt hatten. So konnte uns Istanbul keine Steigerung mehr bieten. Doch wenn man sich von Europa nähert, frisch aus der sogenannten Zivilisation kommt, dann ist Istanbul die orientalischste Stadt der Welt. Aber genau darin liegt ihr Reiz, der Reiz einer alten-jungen, nobel-verwahrlosten, »westöstlichen Diva«. Wie die Spitze eines in unergründlicher Vergangenheit schwimmenden Eisberges.


Istanbul! Istanbul! Istanbul! ...viele Male wiederholte der Schaffner den Namen. Er klang mir im Ohr; ich ließ mich in die Melodie dieses Wortes fallen (die Betonung liegt am 'a'), bis mir langsam bewusst wurde, dass mich der Orient wieder hatte; oder sollte ich besser sagen, dass ich den Orient wieder hatte? Für mich ist die Sehnsucht nach der unendlichen Weite Asiens wie eine Krankheit, wie ein Virus, von dem ich nie geheilt werden möchte.
   »Nun komm doch schon!«
Mit geschulterten Rucksäcken standen meine Freunde vor mir, während ich noch immer am Fenster lehnte, um jeden Augenblick unserer Ankunft zu genießen. Ich schnappte mir meinen Rucksack, hängte mir die Fototasche um und wusste mich angekommen. Noch im Bahnhofsgebäude wechselten wir Geld. Wieder mussten wir, wie im Vorjahr, über den klein geratenen Bahnhof schmunzeln. Der Istanbuler Istasiyon bietet gerade mal sechs Zügen Platz, trotz der vielen Millionen Einwohner. Doch wegen der beengten Platzverhältnisse im Sultanahmet-Viertel und der absoluten Unnotwendigkeit für einen größeren Bahnhof wird seine Dimensionierung verständlich. Nur Unbetuchte benutzen die langsame und unzuverlässige Bahn, während sonst Busse verwendet werden, deren flächendeckendes System bestens organisiert ist. --- Wir wollten am selben Abend Istanbul bereits wieder verlassen und den Tag nützen, um Bekanntes wiederzusehen und Neues zu entdecken.


Hagia SofiaWährend wir unsere Schritte hinauf zur Hagia Sofia lenkten, hingen wir unseren Gedanken nach. Mir schien es fast so, als ob ich Istanbul gar nicht verlassen hätte, als wäre dieses eine Jahr des »Oriententzuges« nur ein Traum gewesen, von dem ich endlich erwachte, um erfrischt und ausgeruht aufzustehen zu einem neuen Tag, einer neuen Reise. Eigentlich war alles so, wie vergangenes Jahr - aber warum sollte es nach einer verträumten Nacht auch anders sein (?) -, in dieser schwer mit Geschichte beladenen Stadt zwischen den Kontinenten. Byzanz, Konstantinopel, Stambul, Istanbul, viele Namen, ein Begriff! Man denkt an die islamische Skyline der unzähligen Minarette und goldenen Kuppeln ihrer Moscheen, an die Hagia Sofia, die »Mutter aller Kirchen und Moscheen«, an die orientalische Pracht des Sultanspalastes, an die verlorene Macht des osmanischen Reiches, welches einst auch das christliche Abendland zu überrennen drohte, an das quicklebendige Wogen ihrer Einwohner, an den Lärm von Straßenhändlern und den Geruch von Benzin und Gewürzen. Wahrlich, Istanbul, das heißt Erleben mit allen Sinnen!
In der Nähe des Bahnhofs kauften wir unser Busticket für den Abend und ließen unser Gepäck zurück, um »unbeschwert« Istanbul besichtigen zu können. Wir spazierten die Straße weiter aufwärts, die uns schließlich zu einem der weltberühmtesten Plätze brachte: auf den Vorplatz des Topkapi-Serails (Sultanspalast), der Hagia Sofia und der Blauen Moschee. Die Hagia Sofia ist eine der ältesten Kirchenbauten, die ungeahnte Dimensionen erschloss. Erbaut unter dem oströmischen Kaiser Justinian, wurde die Arbeit 532 begonnen, mit dem unbescheidenen Ziel, ein Bauwerk »unvergleichlicher Größe und Herrlichkeit« zu errichten. Und um das besonders zu betonen, wurden die umliegenden Häuser beschlagnahmt und abgerissen, damit kein unwürdiger Profanbau den Anblick störe. Am 27. Dezember 537 wurde die »Heilige Weisheit«, was Hagia Sofia übersetzt heißt, eingeweiht. Justinian war derart überwältigt, dass er gesagt haben soll:
»Ruhm und Ehre dem Allerhöchsten, der mich für würdig hält, ein solches Werk zu vollenden. O Salomon, ich habe dich übertroffen.«
Diese Kirche war formgebend für zahlreiche Generationen von Sakralbaumeistern christlicher und islamischer Konfession. Sie überdauerte fast unbeschadet die Jahrhunderte, die Zerstörungen arabischer Angriffe, des vierten Kreuzzuges und der osmanischen Eroberung. Nur die künftige Verwendung als Moschee rettete das Bauwerk vor den Eiferern des Islam. Der 22jährige Sultan Mehmet II bewies Toleranz und Weitblick, als er die wertvollen Mosaiken mit den Darstellungen Jesu Christi, Marias und Johannes' nicht zerstören, sondern lediglich verdecken ließ. - Seit 1935 ist die »Mutter aller Kirchen« Museum.


Wir verzichteten auf die Besichtigung, denn wir wollten Neues sehen. Das Jahr zuvor hatten wir die kolossalen Ausmaße des Innenraumes überwältigend gefunden; und wir hatten es uns auch nicht nehmen lassen, der schwitzenden Säule unsere Aufwartung zu machen. Man sagt, dass von einem unterirdischen Wasserreservoir durch den porösen Sandstein der Säule Feuchtigkeit nach oben steigt, wo man in einer Vertiefung im Stein das »Schwitzen« fühlen kann. Doch Millionen von Touristenhänden aus aller Herren Länder tauschen den Steinschweiß mit echtem aus, und es mag jedem selbst überlassen sein, zu entscheiden, ob man sich diesem Vergnügen unbedingt hingeben will oder nicht.
1609 entschied der damalige Sultan, dass es nicht anginge, dass die größte Moschee Istanbuls eine ehemalige Kirche sei, und so gab er seinen Architekten den Auftrag zum Bau der Sultan Ahmed Moschee, die wegen ihres mit blaugetönten Kacheln verzierten Innenraumes auch Blaue Moschee genannt wird. Die Ingenieure machten ihre Arbeit allerdings so gut, dass diese Çamii (türk. für Moschee) prächtiger und imposanter als die Hauptmoschee in Mekka, dem Mittelpunkt des Islam, wurde: sechs Minarette mit insgesamt 16 Balkonen waren mehr, als dort geboten werden konnte. Aus diesem Grunde musste Sultan Ahmed für Mekka weitere Minarette stiften.
Tausende Touristen promenieren auf dem großen, parkähnlichem Platz zwischen diesen Gebäuden mit Weltruf. Man hört Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Japanisch und wieder Deutsch. Es scheint, als gäbe sich halb Deutschland und Österreich vor der Hagia Sofia ein Stelldichein. Sogar Straßenhändler preisen ihre Waren auf Deutsch an. Türkisch hört man nur von übermütig spielenden Kindern, die ein unglaubliches Geschick darin entwickeln, arm und lieb auszusehen, um Mitleid und damit Baksis (türk. für Trinkgeld) zu erhalten. Welches Touristenherz kann schon widerstehen, wenn so ein kleiner, dreckiger Fratz mit großen Kinderaugen in das wohlgenährte, hochrote Gesicht eines kamerabewaffneten Sommerfrischlers sieht? Es wird gebettelt, gestohlen, gefeilscht, geschrieen... Und trotz des Stimmengewirrs internationaler Prägung findet man nur wenige Meter entfernt um eine Ecke einen Maiskolbenverkäufer, der ruhig und offensichtlich unbeeinflusst von der touristischen Hektik an diesem Platz auf Kundschaft wartet. Auf einem, einem Kinderwagen nicht unähnlichem Gefährt hat er alle Utensilien, die er für sein Gewerbe benötigt: Auf der einen Seite befindet sich ein Topf mit glühenden Kohlen, worüber eine gewölbte Pfanne liegt, in der die rohen Kolben weichgedünstet werden; gegenüber sieht man Papiertüten, Salz und Gewürze und in einer abgegriffenen Schachtel die Kassa. Um wenig Geld kann man sich diesen Snack erstehen.


Wir ließen uns auf eine Bank nieder und betrachteten das internationale Flair; vor uns die rotgetünchte Hagia Sofia, hinter uns die Blaue Moschee.
   »Wollen wir etwas trinken gehen?«, fragte ich
   »Gerne«, bekam ich zur Antwort, »lasst uns den Puddingshop besuchen.«
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie man in einen Shop etwas trinken gehen kann. Nun, mit einem Geschäft im eigentlichen Sinne hat es hier nichts zu tun. Es handelt sich um ein kleines Restaurant. Warum es allerdings Puddingshop heißt, blieb mir ein Rätsel, denn Pudding suchte ich vergebens auf der Speisekarte, und auch, als ich danach fragte, erhielt ich nur verständnisloses Grinsen als Antwort. In den Sechzigern war der Puddingshop der Treff schlechthin. Hippies, die nach Indien trampen wollten, Aussteiger, oder einfach nur allein reisende Abenteurer kamen hier zusammen, tauschten Erfahrungen aus, suchten Reisepartner, oder hinterließen Nachrichten und Tipps am schwarzen Brett, gleich neben dem Eingang rechts. Heute lebt der Puddingshop nur mehr von seiner legendären Vergangenheit, das schwarze Brett ist verblasst, Indien-Non-Stop-Überland-Busse gibt es schon lange nicht mehr; die Zeiten haben sich geändert, und Tourismus hat das Abenteurertum abgelöst. - Wir tranken Çay (türk. für Tee) und Gazoz, ein nach Kaugummi schmeckendes, süßes Limonadengetränk, dann spazierten wir die breite Einfallsstraße in Richtung des Bazars entlang. Als diese Straße angelegt wurde, nahm man keine Rücksicht auf bestehende Verkehrskapazitäten der engen und oft unbefahrbaren weiterführenden Straßen, zerstörte zahlreiche alte Häuser und schlug eine vier- bis sechsspurige Straße durch den Großstadtdschungel. Dies brachte den Verkehr in die Stadt, aber wegen fehlender Regelungen nicht mehr hinaus. Natürlich heißt das nicht, dass sich nun im Sultanahmet-Viertel die Autos stapeln, aber man hat manchmal tatsächlich das Gefühl, es sei so. Zweimal täglich, zu den Stoßzeiten, stellt sich ein unwahrscheinlicher Verkehrsinfarkt ein. Fünfzehn Kilometer lange Staus in beide Richtungen sind keine Seltenheit; Schneckentempo, entnervendes Gehupe, unbeschreiblicher Lärm und natürlich tonnenweise Abgas sind die Folge. Ein Jahr später habe ich in Istanbul einen Smog erlebt, der bei an und für sich schönem Wetter und strahlender Sonne derart dicht war, dass die Fahrzeuge ihre Scheinwerfer einschalten mussten. - Auch wenn bei uns in Österreich nicht alles eitel Wonne ist, so hat die Türkei, was das Umweltschutzbewußtsein betrifft, noch einen weiten Weg vor sich, um Europareife zu erlangen.
Wir hatten Glück, kamen gut voran, wo manchmal sogar Fußgänger im Verkehr stecken bleiben (!), und bogen am Universitätsplatz nach rechts zum Kapali Çarsi, dem »Bedeckten Bazar«, ab.


Am Universitätsplatz hatte ich ein Jahr später, 1990, als ich allein durch die Straßen Istanbuls wanderte, ein amüsantes Erlebnis: Es war sehr früh am Morgen; die Menschen strömten so ganz und gar unorientalisch hektisch ihrem Arbeitsplatz zu. Ich war von einer ruhigeren Seitengasse auf den Universitätsplatz hinausgekommen, wo sich eine unglaubliche Szene abspielte. Ein gutes Duzend polnischer Händler hatten hier einen schwungvollen, aber illegalen Markt aufgezogen. Überall wurde lautstark gehandelt. Da wurden kleine Elektrogeräte angeboten, Kleidungsstücke, wertloses Plastikspielzeug, Uhren aus sowjetischer Produktion, ja sogar Polstermöbel und einen Vogelkäfig mit Inhalt erspähte ich. Ich blieb belustigt stehen und betrachtete das bunte Treiben. Plötzlich hörte man Sirenen; Blaulicht; zwei Polizeibusse rasten auf den Platz: eine Razzia! Das nun folgende hektische Zusammenpacken, Rennen, Laufen und Schreien war »unwiderstehlich«. Interessiert schaute ich zu, als mir bewusst wurde, dass ich ja mitten drin stand, und die Polizei mit Sicherheit in der Schnelle nicht beurteilen würde können, ob ich lediglich Schaulustiger oder polnischer Händler sei. Also begann ich auch zu rennen, rempelte, wurde gerempelt, drängte und lief, stolperte über Treppen hinunter, bog um eine Ecke und fühlte mich in Sicherheit. Schmunzelnd setzte ich schließlich meinen Weg fort.

Als wir den Bazar erreichten, betraten wir eine andere Welt.« - Dieser Satz hat seine Gültigkeit verloren, zumindest, was den Istanbuler Bazar betrifft. Schein hat hier das Regiment übernommen; sein orientalischer Flair ist unwiderruflich verloren. Zwar bieten nach wie vor schreiende und gestikulierende Händler ihre Waren an, aber sie tun es in deutsch oder englisch, sie nehmen auch DM und Dollar, selbst Aufkleber »credit card accepted« sind immer häufiger zu sehen. Goldschmuck, Teppiche, Teeservices aus Blech, denen schon nach einmaliger Benützung die Goldfarbe abgeht, billige Kunstreproduktionen mit osmanischen Motiven und natürlich Lacoste-T-shirts, Marke original nordzypriotische Fälschung, werden angepriesen. Aber es ist relativ billig, und es wird fleißig gehandelt. Touristen werden busladungsweise vor den Toren abgeladen und auf die Händler losgelassen, oder sollte man besser sagen, in die Krallen der gierigen Händler getrieben? Doch im Reisekatalog wurden »unbezahlbare orientalische Erfahrungen im Bazar« versprochen, und es ist nun einmal ein zutiefst menschlicher Zug, betrogen werden zu wollen. Ich habe mit keinem Mitleid, der sich hier »übers Ohr hauen« lässt, wenn mir dieser flapsige Ausdruck gestattet sei: The show must go on!Kapali Çarsi, der bedeckte Bazaar Wir kamen unbehelligt und ohne etwas gekauft haben zu müssen durch diese Mausefalle des Handels. Vielleicht getrauten sich die Händler auch nicht, als sie unsere entschlossen ablehnenden Gesichter sahen. Wir betrachteten den Gang durch den Kapali Çarsi als ein Spiel, bei dem die Gegner zwar übermächtig waren, das wir aber unbedingt gewinnen wollten. Zaghafte Angriffe unserer »Feinde« wehrten wir mit standhaften »No, thank you!« ab; hartnäckigere Fälle bekämpften wir mit der Waffe des Ignorierens. Ein Horrortrip, den jedoch jeder Istanbulbesucher erlebt haben sollte: den Kapali Çarsi, den »Bedeckten Bazar«!

Das Gewühl in den Gassen unterhalb glich einem angestochenen Ameisenhaufen. Wir mussten Acht geben, uns nicht zu verlieren, und gelangten zum Misir Çarsi, dem sogenannten Ägyptischen Bazar, auf welchem in erster Linie mit Gewürzen gehandelt wird. Hier beobachtet man mit Augen, Ohren und der Nase. Dieser kleinere Bazar ist auf die Bedürfnisse der Istanbuler zugeschnitten, denn welcher Tourist kauft schon kiloweise Ingwer oder Rosenblätter?
Gleich nebenan werden Haustiere aller Arten und Größen angeboten, und ein paar Schritte weiter sitzt eine ganze Kompanie von Schuhputzern vor ihren liebevoll geschmückten Schuhkästen, auf den die Passanten aufgefordert werden, einen Fuß zu stellen.


Als wir die wenigen hundert Meter zur berühmten schwimmenden Brücke von Galata zurücklegten, ertönte das kehlige »Allah-u-akbar«, mit dem die Muezzins zum Gebet rufen. Das chaotische Durcheinander auf der Kreuzung vor der Brücke hat System, die Präzision der an- und ablegenden Bosporusfähren ist ungewöhnlich, Fischerboote, deren Besitzer in resignierender Geduld im dreckigen Wasser Meeresfrüchte zu fangen hoffen, liegen vor Anker und Çay-Jungen vollführen mit ihren gefüllten Teekesseln auf klapprigen Blechen geradezu kleine Akrobatenstücke beim Überqueren der Kreuzung. --- Von dieser Stelle aus kann man Tagesausflüge mit dem Boot buchen. Boote, die Besucher zu den Prinzeninseln im Marmarameer bringen oder den Bosporus hinauf. Letzteres hatten wir 1988 getan. Es ist eine empfehlenswerte Tour, wenn man es versteht, den dichtgedrängten »Neckermännern« auszuweichen. Der Bosporus ist jener schmale Meeresarm, der das Marmarameer im Süden mit dem Schwarzen Meer im Norden verbindet. Interessanterweise liegt das Niveau des Schwarzen Meeres etwa einen halben Meter über dem normalen Meeresspiegel. Dadurch ergeben sich eigenartige Strömungsverhältnisse, die oftmals auch den Gezeiten entgegengesetzt wirken; an der Oberfläche von Norden nach Süden, in der Tiefe in der Gegenrichtung. Die Bootstour führt an zahlreichen kleinen Dörfern vorbei, deren einzige Existenzberechtigung zu sein scheint, den Massen Nahrung anzubieten. Restaurant reiht sich an Restaurant; jedes ist spezialisiert auf Fische und türkische Spezialitäten. »Fressdörfer« werden sie manchmal etwas respektlos genannt.

die Galatabrücke über das »Goldene Horn«Die Galatabrücke, und damit kehren wir wieder vom Bosporus zurück, führt nicht über denselben, wie fälschlicherweise oft geglaubt wird, sondern über einen, sich seinem Ende zu verjüngenden Meeresarm, namens Goldenes Horn. Welch maßlose Übertreibung! Denn die einzige Bedeutung des Goldenen Horns scheint darin zu bestehen, die gesammelten Abfälle flüssigen oder festen Aggregatzustandes aufzunehmen und sie besonders langsam auf den Bosporus hinauszubefördern. Dabei stellt sich jedoch ein schwimmendes Hindernis entgegen, die Galatabrücke, die an ihrer Rückseite bereits ein beachtliches Sammelsurium an Müll angehäuft hat. Sture Angler versuchen trotzdem immer wieder, ihre Haken ins Wasser zu bekommen. Was sie dort zu fangen hoffen, entzieht sich meiner Kenntnis, außer es handelt sich bei diesen Unbelehrbaren um Gebrauchtwarenhändler, die so manchen Schatz am schlammigen Grunde des Goldenen Horns vermuten.

Von der Galatabrücke hätte man einen schönen Blick auf die schlanken Minarette, die schmalen, hohen Holzhäuser, oder auf den Galataturm im Stadtteil Pera, wenn nicht der starke Verkehr jedes nichtmotorisierte Betreten unmöglich machen würde. Fußgänger müssen auf die engen Stege beiderseits der Brücke ausweichen, welche unterhalb des Straßenniveaus unmittelbar am Wasser schwimmen. Tausende zwängen sich täglich durch. Trotz der beengten Platzverhältnisse entstanden hier kleine Restaurants, deren Dach die Asphaltdecke der Brücke bildet. Und was könnte man schon auf einer Brücke anbieten, wenn nicht Fisch. - Als wir 1988 bereits einige Tage in Istanbul gewesen waren, hatten wir uns entschlossen, die Köstlichkeiten dieser originellen Restaurants zu versuchen. Vor den Zugängen waren sogenannte »Reinschmeißer«, die alle potentiellen Kunden in ihr Etablissement locken wollten. Wir hatten gerade diskutiert, wo wir uns niederlassen wollten, als einer dieser »Reinschmeißer« uns ein nicht ablehnbares Angebot machte: Wir könnten bei ihm ohne Bezahlung speisen; einzige Voraussetzung sei, dass ihn einer aus unserer Gruppe beim Armdrücken besiege. Das war schon eine eigenartige Art, Kunden zu fangen! Mein Freund Bernhard meinte, das erledige er - wörtlich genommen - im Handumdrehen. Es sei! Im Nu umringten uns zahlreiche Schaulustige. Die beiden »Kämpfer« krempelten sich die Ärmel hoch; Leute gaben Tipps, mischten sich ein, so müsse man sitzen, hier müsse man den Ellbogen aufsetzen und so weiter. Amüsiert verfolgte ich die Diskussionen um uns herum, obwohl ich nichts verstand. Der Restaurantbesitzer persönlich gab das Kommando, »Tamam!«, und ehe sich Bernhard versah, war er schon besiegt. Fast enttäuscht über die Kürze der Vorstellung verlief sich die Menge wieder, was ich mit Erleichterung sah, denn der Ponton des Restaurants senkte sich bereits bedenklich ins Wasser. Der Sieger stellte mit Zufriedenheit fest, dass er gewonnen habe, wir nun hier essen müssten und auch selber zu bezahlen hätten. Eines war klar: Es waren nicht das erste Mal ahnungslose Touristen auf diese Art "überredet" worden, hier zu speisen, aber geschmeckt hatte es uns!
   »Wir müssen umkehren«, mahnte ich, »unser Bus geht in einer Stunde!«
Ein kleines Shuttlefahrzeug brachte uns zum Busbahnhof vor die Stadt, und als sich der Tag langsam verabschiedete, saßen wir bereits im Bus, der uns nach Iç Anadolu, ins Innere Anatoliens bringen sollte. Lange begleiteten uns noch Drängen und Hupen der überfüllten Straßenzüge, dann ließen wir die Hektik zurück und bogen auf die Ringautobahn ein. Ein achtspuriger Highway führt hier zuerst nach Norden, überquert das Goldene Horn und leitet den Verkehr zu der berühmten Bosporusbrücke: 1074 m Spannweite, 70 m hoch über dem Meer. Sie war das eigentliche Symbol des Beginnes unserer Nahostreise 1989, unser »Tor zum Orient«, denn sie verbindet nicht nur die verschiedenen Stadtteile Istanbuls, sondern auch Europa mit Asien, Abendland mit Morgenland, verblendete Hektik und melancholischen Fatalismus. Ich streckte meine Beine aus und genoss den kurzen Augenblick der Überfahrt. Im Süden sah ich die Kuppeln der großen Moscheen im Abendlicht gleißen: Sultan Ahmed und Hagia Sofia schienen uns zu grüßen, unzählige Fischerboote strebten dem Hafen zu, andere nahmen Kurs aufs Schwarze Meer zum nächtlichen Fischfang, und dann waren wir drüben, in Asien.



Andreas Pflügler, Jahrgang 1966, ist Geologe in Kitzbühel und Webmaster dieser Seite. Seit 1987 bereist er jedes Jahr für mehrere Wochen oder Monate Asien, wobei ihn insbesondere die Weite und die Gelassenheit dieses Kontinents faszinieren.


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